Facetten der Hochsensibilität

(Quelle: pixabay, ivanovgood)

Der aktuellste Forschungsstand deutet darauf, dass es sowohl eine allgemeine Form der (Hoch-)Sensibilität im Sinne der Wahrnehmungsbereitschaft für innere und äußere Reize als auch unterschiedliche Facetten von Hochsensibilität gibt.

Von Prof. Dr. Margrit Schreier (Jacobs University Bremen)

 

 

Wenn Sie dies lesen, haben Sie sich sicherlich schon mit Hochsensibilität – zunehmend auch ‚Neurosensitivität‘ genannt – beschäftigt. Dabei sind Ihnen vermutlich auch schon Definitionen dieses Persönlichkeitsmerkmals untergekommen. So benennt Elaine Aron vier charakteristische Merkmale hochsensibler Menschen: größere Verarbeitungstiefe, emotionale Reaktivität und Empathie, Wahrnehmung von feinen Unterschieden in der Umgebung sowie Tendenz zur Überstimulation und –erregung (ARON ET AL., 2012). In der neueren Literatur wird Hochsensibilität auch allgemeiner als Sensibilität der Wahrnehmung von Umgebungsreizen definiert, wobei ‚Umgebung‘ hier alle möglichen Reize von außen wie auch von innen umfasst (GREVEN ET AL., 2019).

 

Erfasst wird Hochsensibilität in der Regel durch einen Fragebogen, den Elaine Aron und Arthur Aron 1997 entwickelt haben. Der Fragebogen wurde inzwischen auch in andere Sprachen übersetzt (z.B. ins Deutsche: KONRAD & HERZBERG, 2017: oder ins Türkische: SENGÜL-INAL & SÜMER, 2017), und es wurden Versionen des Fragebogens speziell für Kinder entwickelt (PLUESS ET AL., 2018; TILLMANN ET AL., 2018).

 

Alles klar, sollte man meinen. Wenn man sich aber empirische Studien zum Thema Hochsensibilität anschaut – also Studien, in denen mittels dieser Fragebögen Daten zu Hochsensibilität erhoben werden, wird die Sache schnell komplizierter.

 

Insbesondere stellt sich die Frage, ob Hochsensibilität in der Tat ein einheitliches Persönlichkeitsmerkmal ist, oder ob sich mehrere Facetten dieses Persönlichkeitsmerkmals unterscheiden lassen. Um dies festzustellen, wird häufig ein bestimmtes statistisches Verfahren angewandt, die sog. Faktorenanalyse. Auch hier gingen ARON UND ARON (1997) zunächst von einem einheitlichen Persönlichkeitsmerkmal der Hochsensibilität aus. Nachfolgende Untersuchungen ergeben allerdings ein ungleich komplexeres Bild. Manche Autor_innen fanden nicht einen Teilbereich, sondern zwei, nämlich ‚negativer Affekt‘ und ‚Offenheit‘ (z.B. EVANS & ROTHBART, 2008). Wieder andere fanden drei Faktoren bzw. Bereiche: Reagibilität (‚ease of excitation‘), niedrige Reizschwelle (‚low sensory threshhold‘), und ästhetische Sensitivität (‚aesthetic sensitivity‘) (zunächst SMOLEWSKA ET AL., 2006; in der Folge u.a. BOOTH ET AL., 2015; EVERS ET AL., 2008; LISS ET AL., 2008), und noch einmal andere sogar vier Bereiche (SENGÜL-INAL & SÜMER, 2017). In der jüngsten Forschung mit großen Stichproben, d.h. vielen Teilnehmer_innen, hat sich gezeigt, dass die beste und passendste Antwort auch bei dieser Frage nicht auf ein entweder-oder, sondern ein sowohl-als auch hinausläuft (LIONETTI ET AL., 2018; PLUESS ET AL., 2018). Hier konnten Forscher_innen sowohl einen allgemeinen Sensitivitäts-Faktor identifizieren als auch die drei Teilbereiche Reagibilität, niedrige Reizschwelle und ästhetische Sensitivität. Es sieht also derzeit so aus, als gäbe es sowohl eine allgemeine Form der (Hoch-)Sensibilität im Sinne der Wahrnehmungsbereitschaft für Umgebungsreize als auch unterschiedliche Facetten von Hochsensibilität.

 

Eine Form von Hochsensibilität oder verschiedene Teilbereiche – ist das nicht eine ‚akademische‘ Frage? Anders formuliert: Folgt daraus irgendetwas für den Alltag hochsensibler Menschen? Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag: Ja, das ist auch für den Alltag wichtig. Denn wenn man sich Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität generell und anderen Persönlichkeitsmerkmalen ansieht, so zeigt sich in unterschiedlichsten Studien auf den ersten Blick ein eher alarmierendes Bild. Beispielsweise wurden Zusammenhänge nachgewiesen zwischen Hochsensibilität und Ängstlichkeit, Stress, negativer Gestimmtheit, Neurotizismus und Zwangsvorstellungen, und zwar derart, dass hochsensible Menschen höhere Werte auf diesen anderen Merkmalen aufweisen, also eher negativ gestimmt sind, ängstlich usw. (z.B. EVERS ET AL., 2008; KONRAD & HERZBERG, 2017).

 

Wenn man den Blick dagegen nicht auf die Hochsensibilität allgemein richtet, sondern auf die verschiedenen Teilbereiche und deren Zusammenhang mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen, dann wird das Bild deutlich differenzierter. Befunde zu Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Teilbereichen von Hochsensibilität und diversen Persönlichkeitsmerkmalen sind allerdings leider sehr unübersichtlich – umso mehr, als verschiedene Autor_innen teilweise noch einmal je unterschiedliche Teilbereiche von Hochsensibilität untersuchen. In einer neuen Studie haben LIONETTI ET AL. (2019) versucht, sich hier im Rahmen einer sog. Meta-Analyse einen genaueren Überblick zu verschaffen. Bei einer Meta-Analyse werden – grob gesagt – die Befunde über mehrere Einzelstudien hinweg miteinander verrechnet, um zu einer Aussage über den gesamten Forschungsstand zu gelangen. Dabei haben sie sich einerseits auf die drei Teilbereiche der Reagibilität, hohen Reizschwelle und ästhetischen Sensitivität beschränkt. Auf der anderen Seite haben sie nur eine begrenzte Anzahl von Persönlichkeitsmerkmalen berücksichtigt: einmal die sog. ‚big five‘ (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit) sowie positive und negative Gestimmtheit. Insgesamt wurden 24 Einzelstudien bei der Analyse berücksichtigt.

 

Zunächst zeigte sich ein hoher Zusammenhang zwischen Hochsensibilität insgesamt und Neurotizismus (d.h. Ägnstlichkeit, Verletzlichkeit) sowie negativer Gestimmtheit. Die drei Teilbereiche von Hochsensibilität weisen auch einzeln einen Zusammenhang mit Neurotizismus und negativer Gestimmtheit auf; allerdings fällt dieser für Reagibilität und eine niedrige Reizschwelle deutlich höher aus als für ästhetische Sensitivität (bzw. geht gegen null für ästhetische Sensitivität und negative Gestimmtheit). Auch für Offenheit ergab sich ein schwacher positiver Zusammenhang mit Hochsensibilität insgesamt. Unterscheidet man jedoch zwischen den Teilbereichen von Hochsensibilität, dann zeigt sich, dass dieser Gesamtzusammenhang ausschließlich auf einen positiven Zusammenhang zwischen ästhetischer Sensitivität und Offenheit zurückgeht; zwischen Reagibilität und niedriger Reizschwelle einerseits und Offenheit andererseits besteht dagegen kein Zusammenhang. Ähnlich sieht es in Bezug auf positive Gestimmtheit aus: Diese hängt nur mit ästhetischer Sensitivität positiv zusammen, nicht dagegen mit den anderen Teilbereichen oder mit Hochsensibilität insgesamt. Zwischen den anderen drei Persönlichkeitsmerkmalen (Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit) ergaben sich keine Zusammenhänge mit Hochsensibilität.

 

Zusammenfassend und kurz gesagt: Hochsensible Menschen sind im Durchschnitt emotional verletzlicher, ängstlicher (‚Neurotizismus‘) und neigen eher zu negativen Gefühlen und Stimmungen als nicht hochsensible Menschen; zugleich sind sie aber anderen Menschen und neuen Erfahrungen gegenüber offener. In welchem Ausmaß das jeweils der Fall ist, hängt allerdings davon ab, wie hoch die Teilbereiche der Reagibilität, der niedrigen Reizschwelle und der ästhetischen Sensitivität bei ihnen ausgeprägt sind. Je höher die Reagibilität auf Umgebungsreize und je niedriger die Reizschwelle, desto stärker sind die Neigung zu negativen Stimmungen, die Ängstlichkeit und Verletzlichkeit. Je höher dagegen die ästhetische Sensitivität, desto stärker sind auch die Offenheit gegenüber Neuem und die Neigung zu positiver Gestimmtheit. Ähnliche Muster zeigen sich auch in anderen Studien für Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und psychischen Störungen: Es bestehen Zusammenhänge zwischen beispielsweise Phobien oder paranoiden Vorstellungen und Reagibilität und niedriger Reizschwelle, aber keine solchen Zusammenhänge zwischen Störungsbildern einerseits und ästhetischer Sensitivität sowie Hochsensibilität insgesamt andererseits (KONRAD & HERZBERG, 2017).

 

Hochsensibilität ist somit ganz klar nicht gleich Hochsensibilität, und damit eröffnen sich zugleich wichtige Perspektiven für die weitere Forschung. In einem ersten Schritt wäre es interessant zu untersuchen, ob sich in der Tat verschiedene Typen hochsensibler Menschen identifizieren lassen, eben Menschen mit hoher Reagibilität, niedriger Reizschwelle und niedriger ästhetischer Sensitivität, Menschen mit niedriger Reagibilität, hoher Reizschwelle und hoher ästhetischer Sensitivität, und ggf. Menschen mit hoher Reagibilität, niedriger Reizschwelle und hoher ästhetischer Sensitivität. In einem zweiten Schritt ergeben sich interessante Zusammenhänge mit einem weiteren Strang der derzeitigen wissenschaftlichen Diskussion um Hochsensibilität. Hier wird gefragt, ob Hochsensibilität den Menschen eher verletzlich macht (das sog. diathesis stress model), eher einen Vorteil darstellt (das sog. vantage sensitivity model) oder beides, im Sinne einer gesteigerten Sensibilität und Aufnahmefähigkeit für sowohl negative wie auch positive Reize (das differential susceptibility model; s. zusammenfassend GREVEN ET AL. (2019)). Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Teilbereiche von Hochsensibilität lässt sich nun fragen, ob ggf. eine hohe Reagibilität und eine niedrige Reizschwelle zu einer vermehrten Verletzlichkeit gegenüber negativen Umgebungsreizen beitragen, eine hohe ästhetische Sensitivität dagegen zu einer vermehrten Ansprechbarkeit gegenüber positiven Umgebungsreizen führt. Weiterhin ließe sich fragen, ob eine erhöhte Reagibilität und eine niedrige Reizschwelle gleichermaßen zu einer vermehrten Verletzlichkeit beitragen. Erste Untersuchungsergebnisse, die positive Wirkungen von Achtsamkeit als Persönlichkeitsmerkmal für hochsensible Menschen nachweisen (BAKKER & MOULDING, 2012), lassen vermuten, dass den beiden Komponenten eine je unterschiedliche Rolle zukommt, und dass es durchaus möglich ist, eine intensive Wahrnehmung der eigenen Umgebung (niedrige Reizschwelle) mit einer verringerten Reagibilität (insbesondere Überstimulation) zu vereinen. Hochsensible Menschen mit diesen Ausprägungen in den drei Teilbereichen würden differenziert wahrnehmen, sowohl Positives wie auch Negatives (niedrige Reizschwelle). Sie würden von dem Negativen nicht überwältigt, und auch nicht von der Menge an Reizen und eigenen Reaktionen darauf (geringe Reagibilität) – und sie wären zugleich in der Lage, das Positive und Schöne zu genießen (ästhetische Sensitivität).