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Interindividuelle Unterschiede hinsichtlich wahrgenommener Belastung und deren gesundheitsbedingte Konsequenzen sind schon seit vielen Jahren ein Thema psychologischer Forschung, deren Perspektive durch die Sensitivitätstheorien in den letzten Jahren erweitert werden.
Von Dr. Teresa Tillmann (Review: Dr. Patrice Wyrsch)
Nachdem einige Befunde zu gesundheitsbezogenen Konsequenzen von Überstimulation, Belastung, aber auch Unterstützung von Hochsensitiven bereits im letzten Artikel beschrieben wurden, soll es an dieser Stelle um Modelle gehen, die als Erklärungsansätze Anwendung finden. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell stellt dabei einen äußerst etablierten Ausgangspunkt dar.
das vulnerabilitäts-stress-modell
Ein sehr bekanntes Modell zur Entstehungserklärung von psychischen Störungen, das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, geht davon aus, dass bei Entwicklung von solchen Störungen insbesondere zwei Faktoren eine Rolle spielen: Auf der einen Seite steht eine so genannte „Vulnerabilität“ einer Person aufgrund von genetischen Dispositionen, biografischen oder auch sozialen Faktoren, bestimmten Persönlichkeitseigenschaften, uvm. Durch diese Eigenschaften werden bestimmte Menschen als anfälliger für solche Störungen beschrieben. Zur Entwicklung einer psychischen Störung reicht allerdings nicht nur die beschriebene Vulnerabilität aus. Hinzukommen muss vielmehr in einem zweiten Schritt eine Situation, ein (Lebens-)Ereignis, oder ein anderes Vorkommnis, welches eine Belastung und Stress hervorruft. Erst eine Kombination der Vulnerabilität mit einem solchen belastenden Vorfall führt zu einer psychischen Störung.
Auf den ersten Blick scheint das Modell sehr eingängig und in der Lage zu sein, mögliche Überforderungen von hochsensitiven Personen zu erklären – zumindest, wenn man die Hochsensitivität als Teil der Vulnerabilität versteht, und zwar als genetische Disposition. Aber, wie so oft liegt aber das „Problem“ im Detail: Denn während das beschriebene Modell bei negativen Erfahrungen durchaus auch auf das Konstrukt der Hochsensitivität passt, fehlt der Fokus auf die positive Seite mit ihren positiven Konsequenzen und Effekten dieser Eigenschaften. Insbesondere aus Sicht der Positiven Psychologie und der Resilienzforschung werden solche Modelle und deren „Einseitigkeit“ vermehrt kritisiert und um den positiven Aspekt erweitert (vgl. BELSKY & PLUESS, 2009).
"vantage sensitivity": die andere seite der medaille
Als Reaktion auf diese doch sehr pathologische und einseitige Betrachtung des Einflusses personaler Merkmale auf gesundheitliche Konsequenzen, entwickelten PLUESS UND BELSKY (2015; vgl. auch DE VILLIERS, LIONETTI, & PLUESS, 2018) die Theorie der „Vantage Sensitivity“. Durch diese werden insbesondere die positiven Aspekte von bestimmten Merkmalen und Dispositionen hervorgehoben. Demzufolge können gewisse Dispositionen zu einer erhöhten Sensitivität gegenüber positiven Umwelteinwirkungen bei gleichzeitiger Resilienz gegenüber negativen Umwelteinwirkungen führen. Es stellt sozusagen den „Gegenpol“ zum Vulnerabilitäts-Stress-Modell dar. Doch auch dieses Modell hat Lücken, betrachtet es diese Zusammenhänge doch gleichermaßen nur aus einer Perspektive.
"differential susceptibility": Ein integratives Modell
Die Theorie der „Differential Susceptibility“ (vgl. BELSKY & PLUESS, 2009) soll an dieser Stelle als Beispielansatz beschrieben werden, der beide Perspektiven miteinander vereint. So betrachtet die Forschung auf dieser theoretischen Grundlage immer sowohl die negativen Effekte von weniger unterstützenden Erfahrungen als auch die jeweiligen positiven Effekte von unterstützenden Erfahrungen. Dieser grundlegende Mechanismus lässt sich im Übrigen auch auf die Theorien „Biological Sensitivity to Context“ und „Sensory-Processing Sensitivity“ sowie die übergreifende Rahmentheorie „Environmental Sensitivity“ übertragen. Somit tragen die verschiedenen Sensitivitätstheorien aktuell zur Weiterentwicklung bzw. Erweiterung des Blickwinkels auf gesundheitliche und psychologische Konsequenzen von Erfahrungen bei.